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Lernen als Emergenz sozialer Prozesse

Ist das Lernen sozial besser motivierbar? Betrachten wir das Lernen nicht als zu individuell? Dabei sind wir vorrangig soziale Wesen, unser Verhalten ist eingebettet in soziale Normen. Die Macht der sozialen Norm, die Macht des Wunsches nach Gruppenzugehörigkeit hat einen großen Einfluss auf unser individuelles Verhalten.

Was wir Lehrende vollkommen unterlassen, ist, diesen sozialen Aspekt zu gestalten. Wenn wir Teamarbeit einfordern, dann nach bestimmten Normen -- und den Gruppenprozess bewerten wir auch noch mit einer Note. Beispiel: Eine Gruppe aus fünf Studierenden muss eine Software nach allen Regeln der Kunst entwerfen, planen, entwickeln und testen, wobei jedem Mitglied der Gruppe bestimmte Rollen zugeteilt werden. Es ist mehr als verständlich, dass Studierende diese Form artifizieller Zwecksozialisierung meiden und ablehnen. "Ich mag Gruppenarbeit nicht!", ist ein nicht selten zu hörender Satz.

Die andere, übliche Form der Gemeinsamkeit zeigt sich beispielweise in einem Praktikum. Studierende kommen oft schon in kleinen Grüppchen zu einem Pratikumstermin und igeln sich in dieser Zwei- oder Dreisamkeit ein. Manche bleiben den Rest des Semesters ohne Austauschpartner. Man befindet sich halt nur zur gleichen Zeit am selben Ort. Man ist für sich, im Kleinen oder in der Gruppe, und im besten Fall baut man eine Beziehung zu den Lehrenden (Dozenten) und den Lernbegleitern (Tutoren) auf.

Welch vertane Chance!

Wenn ich das Lernen als emergentes Phänomen sozialer Prozesse verstehe, dann werde ich versuchen, soziale Prozesse "im Klassenraum" so zu modulieren, dass sie Fernwirkungen haben in Bereiche außerhalb der Räumlichkeiten einer Hochschule. Dann vernetze ich Studierende, dann versuche ich sie zu Gebenden zu machen, die sich gegenseitig helfen, die soziales Miteinander verstehen als Beistand, als gemeinsames Interesse, als Fokus, als Interesse am gemeinsamen Wachsen, das Lernen stattfinden lässt, Verständnisblockaden löst, zum Tun, zur Überwindung usw. anleitet. Soziale Gruppen etablieren Normen, die ihre Mitglieder zu erfüllen versuchen. Man beteiligt sich, gibt und ist damit beitragend zum sozialen Sog, der dabei entsteht und einen selbst mitzieht.

So wird der "Klassenraum" zum Inkubator, zum Einüben, zur Erprobung, zum Sichtbarmachen von sozialen Prozessen, die nicht im Hörsaal enden, sondern sich fortpflanzen und fortsetzen an den Orten, wo üblicherweise das Lernen privat, still und einsam, ein Kampf wird, wo es standhaft zu bleiben gilt bei Ablenkungen, Versuchungen, Störungen -- wo es Widerstände zu überwinden gilt, wenn sich Probleme ergeben, etwas Unverstanden ist, die Durchdringung eines Sachverhalts Zeit und Ausdauer kostet.

Welch Segen kann es da sein, wenn man sich in einer Lerngruppe trifft, wo man sich aussprechen, wo man seine Gedanken sortieren, sein Unverständnis ergründen, seine Suche nach einer Lösung strukturieren kann. Welch ein Segen, wenn man via Internet eine große Community im Rücken hat, die einem hilfsbereit zur Seite steht. Welch Segen, wenn einen die soziale Norm die erlebte Einsamkeit überwinden hilft, Lernzeiten planen lässt usw.

Lernen als emergentes Phänomen sozialer Prozesse! Lehre als Anstoß, Treiber, Grundstein sozialer Prozesse und Normen, um das Gelehrte und zu Lernende über die soziale Modulation, über die Wechselwirkung einer gemeinschaftlichen Aneignung beim Individuum ankommen und geschehen zu lassen.

Lieber Leser, lieber Leserin, ich weiß nicht, wie das geht. Ich möchte es gerne ergründen. Das vordringlichste Problem der Lehre ist nicht die Digitialisierung, es ist ihre "Sozialisierung".

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