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Die Vorlesung auf den Kopf gestellt: Die "Inverted Classroom Model"-Konferenz ICM 2013 in Marburg

Warum hält heutzutage noch ein Dozent bzw. eine Dozentin eine Vorlesung? Gemeint ist der "Lehrmonolog", in dem einer spricht und viele zuhören und sich das dialogische Moment des Austauschs auf ein Minimum beschränkt. Damit mich niemand falsch versteht: notwendig ist diese Lehrform unbedingt. Es gibt Dinge, die wollen gewusst und erklärt werden. Aber das Format des "Lehrmonologs" ist als Lernform zu wenig. Machen, tun, erfahren, begreifen, explorieren, hinterfragen, ausprobieren, experimentieren -- all das ist nötig, um zu lernen, um Neues beim Lernenden zu verankern. Und das braucht Zeit. Viel Zeit. Zeit, die man nicht hat, wenn man zu viele "Lehrmonologe" hält. Und Lernen braucht den Dialog, die Auseinandersetzung.

Warum also nicht den "Lehrmonolog" auslagern, als Video aufzeichnen, auf Youtube (oder woanders) hochladen und den Studierenden vor der "Vorlesung" zur Verfügung stellen? Genau das ist die Idee des Inverted Classroom Model (ICM), gerne auch Flipped Classroom Model oder Flip Teaching genannt. So kann die "Vorlesung" -- nun befreit vom zeitraubenden "Lehrmonolog" -- genutzt werden für die Aktivierung und die Gestaltung von Lernprozessen. Da der "Lernstoff" ja nicht von sich aus aktiv und dialogisch ist (zum Beispiel sind die Newton'schen Gesetze oder die Maxwell'schen Gleichungen erst einmal nur Formeln), ist nun die Zeit da, den "Lernstoff" in Formen zu gießen, die aktiven Umgang und dialogische Auseinandersetzung mit dem Stoff zulassen und fördern. Und dazu braucht es immer noch den Lehrer bzw. die Lehrerin (das Wort passt nun weit besser als Dozent/Dozentin), der dialogische Lernszenarien entwickelt aber auch als einspringt als Vermittler, wenn die dialogische Auseinandersetzung mit dem Lernstoff ins Stocken geraten ist. Dann besteht eine echte Chance, dass Lernen stattfindet.

Für diese Betrachtungen zur Lehre gab es wunderbare Anregungen auf der Konferenz zum Inverted Classroom Model (ICM 2013) in Marburg, die ich am 27. Feb. besucht habe. Jörn Loviscach, FH-Prof aus Bielefeld und unumstrittener ICM-Star mit seinen Lehrvideos auf Youtube, erläuterte, wie er Videos produziert und welche Erfahrungen er damit gemacht hat (Link zum Vortragsvideo). Brian E. Bennett, Schullehrer aus den USA, zeigte mit Bezug auf Dan Meyer sehr eindrucksvoll, wie man Lehrinhalte in hochgradig dialogische Formen bringen kann; teils lässt sich das sehr schön mit Videos oder Fotos machen, die aber alles andere als "Lehrmonologe" sind. Daniel Bernsen, Lehrer aus Koblenz, ergänzte das mit interessanten Erfahrungen aus dem Geschichtsunterricht.

Im Workshop mit Christian Spannagel (Prof an der PH Heidelberg) war sehr schön zu erfahren, mit welchen Werkzeugen ein "Methodenkoffer" zur Lehre gefüllt werden kann, wenn denn der Lehrinhalt zuvor per Video vermittelt wurde (Folien-Link). Beispiele sind Audience Response-Systeme, das "Listen, Think, Pair, Share"-Modell von Lyman und die Idee des "Aktiven Plenums". Sehr interessant war auch der Workshop zu Audience Respone-Systemen (ARS) von Leonie Wiemeyer und Andrea Röhr. Die Möglichkeiten der ARS sind ganz neue geworden, seitdem die Studierende Laptops, Tablets oder Smartphones in die Vorlesung mitbringen. Wer ein ARS ausprobieren möchte: ars.thm.de der Technischen Hochschule Mittelhessen.

Natürlich ist das ICM ein Baustein auf dem Weg zu anderen Lehrkonzepten, aber es ist keine Lösung für alles. Herr Loviscach lässt es an Deutlichkeit nicht Mangeln. Seit einigen Semestern straucheln seine Mathe-Studierenden bei einfachsten Grundlagen: es hapert schon bei der Bruchrechnung. Neu im vergangenen Semester sei die Unkenntnis von "Punkt- vor Strichrechnung". Er ist mit solchen Beobachtungen nicht allein, ich mache sie auch -- nur gesprochen wird darüber kaum. Was ist los mit unserem Bildungssystem in Deutschland?

Und wenn wir schon dabei sind: Warum müssen wir den Studierenden nun Videos präsentieren? Leistet das Lehrbuch oder das Manuskript zur Vorlesung nicht ebenfalls beste Dienste? Auch darauf antwortete Herr Loviscach einmal in einem gänzlich anderen Vortrag: Würde er auf das Lesen der Texte zur Vorbereitung bestehen, er würde noch mehr Studierende abhängen? Armes Deutschland: Hat der Verfall der Lesekultur begonnen?

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich glaube, den Streit um den Verfall der Lesekultur muss man an dieser Stelle nicht führen. Unbestreitbar ist der "Lehrmonolog" in Textform nicht zu verachten. Aber es gibt auch gute Gründe für das Video. Es ist, wie der Text, ein lineares Medium, dabei aber deutlich weniger geeignet für schnelles, ungenaues "drüberlesen" und bedient zwei Kanäle gleichzeitig: man höhrt zu, sieht Geschriebenes und Zeichnungen. Das bindet Aufmerksamkeit und Konzentration. Wenn man dann geschickt Pausen einbaut mit z.B. kurzen Testfragen, dann nutzt man eine "Lerndramaturgie", die dem Textmedium abgeht.

Das "Inverted Classroom Model" baut ein Spannungsfeld auf, das überdeutlich die Notwendigkeit von gut ausgebildeten Lehrenden einfordert: Die Wissensvermittlung per Video skaliert hin zu beliebig vielen Studierenden. Das ist "Massenlehre" genauso wie das Fernsehen oder Youtube Massenmedien sind. Praktisch, quadratisch, gut! Das Lernen selbst bleibt jedoch ein individueller Vorgang. Und noch sind wir in der Lehre meilenweit davon entfernt, gescripted (will sagen: automatisiert) Lernprozesse zu inszenieren, die massentauglich und individuell zugleich sind. Das ICM fordert noch mehr als zuvor nicht nur medien- sondern auch methoden-kompetente Lehrende ein.

Wobei wir bei einem weiteren Problem sind: Die Klausur als Messinstrument von Bildungsleistungen zeigt sich nur begrenzt kompatibel mit einem Lehrmodell, das die dialogische Auseinandersetzung mit Lernstoffen einfordert. Wenn es am Ende doch nur noch darum geht, stumpfe Rechenaufgaben zu lösen oder vorgefertigte Lösungstexte in einem geschickten Remix zu reproduzieren, dann bremst das erheblich die Motivation, sich als Student(in) auf aktivierende und zeitraubende "Lernspielchen" einzulassen. Prüfungs- und Lehr- und Lernformen müssen kohärent sein, aufeinander passen.

Zum Schluß der Konferenz fragte Jürgen Handke, Linguistik-Professor und Organisator der ICM 2013: Warum treiben Pädagogen Lehrmethoden wie das ICM und deren Verbreitung nicht voran? Und mich betrübt, als sich eine Lehramtstudentin zu Wort meldet und sagt: sie habe in ihren bisherigen vier Semestern eigentlich keine Pädagogik erlernt -- und Schule zeige sich sehr resistent gegenüber neuen Lehrformen; sie dürfe dort Experimente wie das ICM nicht ausprobieren.

Sehr gefreut an der Konferenz hat mich die offene Atmosphäre. So habe ich nicht nur nette Gespräche mit Matthias Uhl und Gesine Torkewitz geführt. Besonders gefreut hat mich auch der gemeinsame Abend mit Christian Spannagel im Cafe Barfuß. Wir haben lange über Consize und die Möglichkeit der Gamifizierung in der Informatik-Ausbildung gesprochen.

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