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Kritik zu Videos in der Digitalen Lehre: Massenabfertigung statt Lernbegleitung

Der Witz an Lehrvideos ist: Dieses Mittel skaliert dann, wenn das Video die Einzelansprache schafft, so, als ob Du mit dem Lernenden oder einer Lerngruppe an einem Tisch säßest. Du nimmst sie oder ihn ernst. Du erklärst einfach, verständlich, anschaulich, mit den Mitteln des Alltags. Du nutzt Metaphern, Bilder, Analogien, Geschichten. Du hast Beispiele, zeigst, wie es geht. Du entkomplizierst ohne zu trivialisieren. Du lässt dem Verständnis zuliebe auch mal fünfe gerade sein. Es zählt nicht Perfektionismus, sondern Dein Engagement, auf Dein Gegenüber einzugehen. Du improvisierst im Spielraum der privaten Atmosphäre. In dieser Ansprache skaliert Dein Video in seiner Funktion als Lehrmittel für viele. Weil es für den Einzelnen gemacht ist.

Screencasts unterscheiden sich oftmals kaum von Vorlesungen oder Powerpoint-Vorträgen: Sie sind als Kommunikation für und mit der Masse konzeptioniert und nicht als individuelle Ansprache. Ein Vortrag für ein größeres Publikum will etwas ganz anderes erreichen, setzt ganz andere Stilmittel ein, als eine Lehr-/Lernsituationen unter zwei, drei, vier Menschen. Die Aufzeichnung einer Vorlesung verändert den Charakter des Massenunterrichts nicht; es bleibt lediglich die "Wiederholungstaste", das Vorgetragene wieder und wieder abspulen zu können.

Insbesondere in der Vorlesung will der/die Vortragende ein Fachgebiet systematisch und umfassend abdecken. Wissen, Konzepte, Verfahren, Methoden, usw., all das soll vorgestellt und dargelegt werden. Die Vorlesung unterscheidet sich in diesem Anspruch kaum von einem Lehrbuch -- und sie hat ihre Berechtigung, ihre Aufgabe und ihren Zweck ebenso wie das Buch. Systematik und umfassende Darstellungen werden gebraucht. Sie bilden Fundamente. Sie bieten Orientierung. Sie sind Wissensschatz. In dem Sinne sind Bücher wohl bis heute die besseren Videos und in vielen Fällen wohl auch das geeignetere Medium. Man kann darin nachschlagen, eine Übersicht gewinnen, hat plastisch einen Umfang des Stoffs vor Augen, man kann sich durcharbeiten.

Doch was ist das Charakteristikum des Lernens? Wann setzt Lernen ein? Oftmals eröffnet sich der Lernprozess mit der Frage: "Das hier habe ich nicht verstanden. Können Sie mir das noch einmal erklären?" In diesem Moment wird lernen individuell. Es bezieht sich episodenhaft auf einen Auszug. Es sucht selten das Verständnis des großen Ganzen, das steht ja im Buch. Es ist die eine Frage, es ist das Ringen mit und um etwas. Es ist das Problem, etwas anwendbar zu machen, damit eine konkrete Aufgabe zu lösen. Es ist die Ratlosigkeit oder einfach nur die Unsicherheit "Habe ich das richtig verstanden?"

Die Bitte, noch einmal etwas zu erklären, ist immer eine individuelle, auch wenn sie von jedem einzelnen Lernenden gestellt wird. Im Dialog mit dem Einzelnen wird Aufmerksamkeit gebunden, werden kognitive Ressourcen eingefordert und freigesetzt. Jetzt beackern wir gemeinsam ein Problem. Ich erkläre es Dir. Vielleicht nicht perfekt, vielleicht treffe ich nicht wirklich Deinen Punkt, aber ich bin bei Dir, ich beschäftige mich mit Dir, wir treten in einen Dialog ein.

Ein Lehrer, eine Lehrerin weiß, dass er oder sie etwas tausendmal erklären muss. Manchmal jedem Schüler, jeder Schülerin. Und das Jahr für Jahr oder gar Semester für Semester. Immer wieder. Das ist ermüdend, aber es funktioniert ja eben nicht, sich vor die Klasse oder im Hörsaal vor die Studierenden zu stellen und zu sagen: "Ich erkläre es euch jetzt allen gemeinsam -- dann spare ich mir, es jedem einzeln beizubringen." In dem Moment ist es Massenkommunikation geworden. Das ist möglicherweise für einen Teil des Unterrichts oder der Lehre vertretbar, durchaus auch in Form eines Videos (oder eben Buchs). Aber just im Wechsel zur Massenkommunikation, der Darstellung für alle, entsteht der Bruch, der es riskiert am Lernenden vorbei zu zielen. Lernen ist individuell. Nur weil man etwas massentauglich gesagt und erklärt hat, ist es noch lange nicht individuell verstanden und erst recht noch nicht erlernt. Der Einsatz von Audience Response Systemen soll das Risiko des "Missverständnisses" während der Lehrsituation mindern, aber es bleibt ein Dialog mit der Masse.

Das Lehr-/Lernvideo hat die einzigartige Chance, die Verbindlichkeit und Ansprache des Einzelnen zwar filmisch zu inszenieren -- oder sagen wir besser: zu imitieren --, aber sie gestaltet damit eine Lernbühne, die gezielt die Situation "Wir zwei am Küchentisch, ich erklär Dir mal was" entwirft und sich damit aus der Kommunikation mit Masse löst. Jetzt entsteht die Chance, gemeinsam etwas zu erreichen. Das mag um Quizzes angereichert sein oder die Gamifikation als Antriebsmotor nutzen. Entscheidend ist, den Lernenden aus der Masse zu lösen, sie oder ihn anzusprechen und "im Einzelgespräch" dort abzuholen, wo er oder sie um Erkenntnis ringt. Diese Form des Lehr-/Lernvideos ist spontan, unsystematisch, vielfältig, spannend, unerwartet, improvisierend, privat, unperfekt angelegt; manchmal auch zäh, ausdauernd und hartnäckig in der Wegstrecke eines kompliziertes Sachverhalts, der den Lernenden herausfordert und an seine Grenzen führt.

Lernen ist nicht immer spaßig, nicht immer leicht -- aber immer individuell. An dieser Stelle sollte digitale Lehre meiner Meinung nach ansetzen. Ich bin weit davon entfernt, diese formulierten Ansprüche selbst einzulösen. Wer mag, darf sich jedoch in meinem Experimentallabor umschauen, in dem die ersten Videos entstehen, die einen Weg zu dieser Gestaltungsform von Videos als Lernbegleiter suchen: https://www.youtube.com/user/dherzb/videos



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